Tippelbrüder – Landstreicher – Obdachlose: Um sie geht es in diesem Beitrag. Wir setzen uns eine Brille auf und betrachten Menschen von der Straße einmal ganz anders, als wir es gewohnt sind. Wussten Sie, dass es eine „Kultur der Straße“ gibt? Riskieren Sie einen Blick hinter die Fassade von Sucht, Armut und Verwahrlosung. Das kennen Sie ja schon. Was Sie wahrscheinlich noch nicht kennen, sind die vielen Gesichter, die Wohnungslosigkeit der Öffentlichkeit präsentiert oder wie sie sich, im Gegenteil, unseren Blicken entzieht. Lernen Sie einen Mann kennen, der Ihnen erzählt, was die Kultur der Straße ist und wie er gemeinsam mit anderen Angehörigen der Straßenszene und mit Unterstützung von Sozialarbeit Einfluss auf eine Stadt nahm und als politischer Aktivist in Erscheinung trat.
Warum Männer öfter obdachlos sind als Frauen und was Wohnungslosigkeit mit Unternehmertum gemeinsam hat, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Dieser Beitrag erschien in in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, Ausgabe 2/2022, verlag modernes lernen. Er ist hier im Layout verändert und im Text ein wenig ergänzt..
Wohnungslosigkeit im Hilfesystem
„Er hat die Kultur der Straße ins Haus geholt“, beschreibt Thomas Rutschmann den radikalen Paradigmenwechsel, den der damalige Leiter der Wohnungslosenhilfe in den 1990er einläutete. Die Sozialarbeiterszene der Wohnungslosenhilfe schielte verstört ins südbadische Offenburg. Was machten die denn da?
Rutschmann, der als stellvertretender Leiter das neue Konzept mitgestaltete, später Referatsleiter wurde und aktuell Regionalleiter im AJG Fachverband Ortenaukreis und Wohnungslosenhilfe ist, lächelt verschmitzt in die Kamera als er in seinen Erinnerungen kramt.
Er hat sich nach Feierabend Zeit genommen für dieses Video-Gespräch, das fast zwei Stunden dauern wird und erzählt von einer Hausbesetzung, initiiert von wohnungslosen Menschen und unterstützt durch die neu angetretene Sozialarbeit. Diese Haltung sei damals der Gegenpol zum vielerorts noch praktizierten defizitorientierten Hilfeansatz gewesen. Das Angebot habe sich fortan an der Lebenswelt der Betroffenen orientiert. Im praktischen Alltag bedeutete das: Alkoholkonsum wird als Tatsache respektiert, auch der Hund ist willkommen, Paare werden als Lebensgemeinschaft adressiert und entsprechend untergebracht. Das klingt im Jahre 2021 nicht besonders revolutionär, aber vor 25 Jahren sah die Realität noch ganz anders aus. „Da wurden Spindkontrollen durchgeführt und wenn Alkohol gefunden wurde, konnte der Betroffene entlassen werden. Sogar Zivildienstleistende waren befugt zu durchsuchen. Manchmal wurde jemand mitten in der Nacht auf die Straße gesetzt. Unfassbar!“ Thomas Rutschmann schüttelt empört den Kopf.
Offenburg ist eine beschauliche Kreisstadt (Ortenau) mit 59.000 Einwohnern und Einwohnerinnen. Straßburg ist keine 30 Kilometer entfernt, ins südlich gelegene Freiburg im Breisgau sind es ungefähr 50 Kilometer.
Viele Züge enden hier, mit Umstieg geht es weiter nach Basel oder eben gar nicht. So erreichen manche Menschen ungeplant Offenburg oder kommen über das nahe Frankreich unbemerkt über die Grenze, in der Hoffnung, irgendwo in Deutschland neu zu beginnen. Sie kommen mit kleinen Taschen, aber schwerem Gepäck: Falschen Versprechungen und Hoffnung der Angehörigen, die in den Län- dern des sogenannten ehemaligen Ostblocks auf Geldsendungen warten.
Kultur der Straße
1999 kam ich als studentisch Auszubildende im Rahmen eines dualen Studiums in die Einrichtung. Ich lernte in meinen Praxissemestern, was es heißt „niederschwellig“ zu arbeiten. Dass Hunde willkommen waren, die Menschen mit Bierdosen vor sich am Tisch saßen und überall geraucht wurde war der eher kleinere Teil des Konzeptes. Die Kultur der Straße ins Haus zu holen bedeutet, erst einmal anzuerkennen, dass es eine solche gibt. Aber was ist das eigentlich für eine Kultur?
Wie in allen Subkulturen gibt es auch bei Menschen, die auf der Straße leben und sich dieser Szene zugehörig fühlen, ungeschriebene Gesetze. Wer Teil der Gruppe sein möchte, hält sich an diese Regeln und erkennt die Leitfiguren an. Es gibt eine gemeinsame Identifikation mit bestimmten Werten. Zum Teil sind sie selbst bestimmt („Platte machen“, das Nachtlager im öffentlichen Raum), sie werden ihnen aber auch zugeschrieben, ja übergestülpt. Das kann zu Diskriminierung bis zu absoluter Ausgrenzung führen (z.B. Kriminalität und Arbeitsverweigerung).
Das Gesetz beschreibt Menschen, die Anspruch auf Hilfe nach § 67 des zwölften Buches im Sozialgesetzbuches SGB haben als „Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind“ und die zur Überwindung dieser Schwierigkeiten Leistungen erhalten sollen, wenn sie sie aus eigener Kraft nicht überwinden können.
Man kann das merkwürdig finden und sich fragen warum Wohnungslosigkeit nicht konkret benannt und klar definiert wird. Zum einen wird der Gesetzgeber der Realität gerecht, den Personenkreis weit zu fassen, denn den Wohnungslosen gibt es nicht. Die Wohnungslose erst recht nicht. Das ist kein homogener Personenkreis. Das macht die professionelle Arbeit in diesem Feld auch so abwechslungsreich, spannend und herausfordernd.
Ein weiterer Grund könnte sein, und das ist meine ganz subjektive These, dass es seit den 1990er Jahren niemand mehr wagt, wohnungslose Menschen mit Begrifflichkeiten offiziell zu brandmarken. Wenn man sich mit der Geschichte der Wohnungslosenhilfe in Deutschland auseinandersetzt, stellt man fest, dass noch bis in die 1980er Jahre hinein von „Nichtsesshaften“ die Rede war. Im alltäglichen Sprachgebrauch hielt sich der Begriff darüber hinaus hartnäckig. Ich erinnere mich an einen Mitarbeiter der Kreisverwaltung, der auch in den 2000ern noch versuchte, mit mir über „die Nichtsesshaften“ zu diskutieren. Bei meiner Recherche stieß ich auf eine Masterarbeit aus dem Jahre 2006, die den Untertitel „Ermittlung von pädagogischem Handlungsbedarf zur Prävention, Optimierung und Überwindung der Lebensform Nichtseßhaftigkeit“ führt.
Wenn wir noch ein paar Jahrzehnte weiter zurückgehen, werden die Begriffe zunehmend entwürdigender. Im Nationalsozialismus etwa mussten die Leute ein Wanderbuch mitführen, das belegte, dass sie unterwegs arbeiteten. So hielt man „Landstreicher“ von den Straßen fern, denn für die Nacht mussten sie sich polizeilich melden und wurden zum Schlafen in primitive Unterkünfte eingewiesen, die oft abgeschlossen wurden wie ein Gefängnis.
Ab 1936 wurden Menschen, die keinen festen Wohnsitz hatten, offen als „asoziale Volksschädlinge“ tituliert. In Dokumenten kann man nachlesen, wie „Nichtsesshafte“ als „besondere, sozial abnorme und psychisch auffällige Persönlichkeit“ beschrieben werden. Die wenigen wohnungslosen Frauen waren „Gefallene“. Wir wissen alle, was zu der Zeit mit Menschen geschah, die in diese Kategorien fielen.
Auch während der deutschen Wirtschaftswunderjahre ging man davon aus, dass der „Wandertrieb“ eine psychische Krankheit darstellte, betteln und „vagabundieren“ standen weiterhin unter Strafe.
Aus „Nichtsesshaften“ wurden in den 1960er Jahren „Gefährdete“ und in den 1970ern hatten „Wohnungs- und Obdachlose“ endlich einen Rechtsanspruch auf Hilfe.
Der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, dass es in der DDR ähnlich war. Ich kenne grausame Schicksale, die mir frühere DDR-Bürger erzählten. Vom Regime herabgewürdigt und verfolgt, eingesperrt und teilweise gefoltert, verweise ich auf persönliche Berichte von Betroffenen. Erst während des Schreibens fällt mir auf, dass ich mich als Westdeutsche ganz selbstverständlich auf die Geschichte von Wohnungslosigkeit in der BRD beziehe. Dabei wäre es angebracht, die der früheren DDR in die Recherche miteinzuschließen. Allerdings ist morgen schon der Abgabetermin für diesen Beitrag.
Geduscht, gefüttert - ok, vielleicht nicht gerade gewickelt - aber wenigstens frisiert
So könnte man etwas polemisch beschreiben, was sich Laien in etwa unter „Hilfen für Obdachlose“ vorstellen. Als Laien bezeichne ich in diesem Kontext Personen, die nicht regelmäßig mit Wohnungslosen interagieren.
Auch ich hatte diese Sichtweise auf Menschen, die ich im öffentlichen Raum als obdachlos wahrnahm. Ich dachte, dass mit Anleitung zur Körperpflege, ein bisschen Geld und einer Wohnung das Symptom Obdachlosigkeit zu kurieren sei. Und dann natürlich der Alkohol! Wenn sie nur aufhörten zu trinken, würden sie auch wieder Arbeit finden und hätten ein geregeltes Leben. Ich empfand beim Anblick Wohnungsloser eine Mischung aus Ekel (wegen der Verwahrlosung), Angst (weil ich ihre Reaktionen für unberechenbar hielt) und Mitleid (wegen der Armut und für ihre Hunde).
Dass sie, um auf der Straße überhaupt überleben zu können, über Kompetenzen verfügen und viele Ressourcen besitzen müssen, kam mir nicht in den Sinn. Saufkultur wäre vielleicht gerade noch eine Kulturform, die mein begrenzter Horizont ihnen zugetraut hätte.
Ich habe es weiter oben schon erwähnt. Die Wohnungslosenszene ist nicht homogen. Sie besteht aus vielen verschiedenen Gruppen, die sich teilweise sogar voneinander abgrenzen. Für diesen Artikel möchte ich eine Gruppe genauer betrachten, weil ich für ihre Kultur am leichtesten Worte finde, die ich zum Ausdruck bringen kann.
Über Wohnungslosigkeit
Wohnungslosigkeit ist weit mehr als das Symptom Obdachlos. Tatsächlich sind nicht alle Wohnungslose ohne Obdach und leben auf der Straße.
Einige finden für ein oder mehrere Nächte Unterschlupf auf einer Couch oder auf dem Boden in der Wohnung eines Bekannten. Frauen gar ein weiches Bett. Selbstverständlich keines für sich alleine. Darin liegt nämlich schon der Inhaber und verlangt fast immer eine sexuelle Dienstleistung dafür. Für ein paar Nächte in einem beheizten Raum lassen Frauen viel über sich ergehen. Vergewaltigung und andere Formen der Gewalt zeigen sie in der Regel nicht an.
Frauen auf der Straße sind viel gefährdeter als Männer. Sie fallen in der Öffentlichkeit weniger auf, und es scheint sie kaum zu geben. Ihre Wohnungslosigkeit halten sie aus Scham oft geschickt verborgen, auch ihrer Kinder wegen. Groß ist die Angst, den Kontakt völlig zu verlieren.
Eine meiner früheren Kolleginnen nannte noch einen anderen Grund: „Frauen sind besser darin, sich rechtzeitig Unterstützung zu holen. Sie steuern früher Beratungsstellen an als Männer.“
Wer seinen Wohnraum verliert, muss von seiner Kommune untergebracht werden. In Deutschland soll niemand auf der Straße stehen ohne ein schützendes Dach über dem Kopf. Es werden alle versorgt, die ihre Wohnung verloren haben. Sei es urplötzlich durch Feuer und Überschwemmung oder schleichend, durch Überschuldung und Räumungsklage.
Geschlechterverteilung
Berber - ein Begriff, er den Betroffenen oft gefällt
Es sind die Berber, wie sie sich selbst gerne nennen. Das sind Männer und einige wenige Frauen, die „Platte machen“, also draußen schlafen und ihre Unabhängigkeit schätzen. Sie organisieren ihren Alltag weitgehend selbst und nehmen ambulante Angebote der Wohnungslosenhilfe wahr, wenn sie Bedarf haben. Zum Beispiel Tagesstätten wie Wärmestuben für eine nährende Mahlzeit und als Aufenthalt während kalter und nasser Tage. Oder Fachberatungsstellen, um behördliche Angelegenheiten zu regeln wie die Auszahlung von Sozialleistungen und das Ausfüllen von Formularen für Ämter. Auch niederschwellige medizinische Angebote, wo es sie gibt, ebenso wie sanitäre Anlagen und Kleiderkammern, wo Kleidung gewaschen oder unbrauchbar Gewordenes ersetzt werden kann.
In der Regel sind Berber selbstbestimmte Menschen, die sich von Behörden nicht schikanieren lassen (ich schreibe das absichtlich so, denn es ist leider wahr, dass manche Sachbearbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ämtern das Machtgefälle genießen), ein spießbürgerliches Leben mit seinen Zwängen und Begrenzungen nicht sonderlich attraktiv finden und die ihren Lebensstil nur unter einem Zwang aufgeben, dem sie sich irgendwann einmal in ihrem Leben beugen: Alter und Krankheit oder, bei jungen Leuten, auch ein Kind, das sich ankündigt.
Sie empfinden sich ausdrücklich nicht als bedürftig und betonen, dass sie sich frei für diesen Lebensentwurf entscheiden.
Das ist meine Beschreibung der Berber. Würden Sie die Berber selbst fragen, würden einige wohl antworten, dass sie sich als materiell unabhängig sehen und auf Sozialhilfeleistungen weitgehend verzichten, sich also selbst versorgen. Einkommen wird durch Spenden im öffentlichen Raum erzielt. Mit Kunst z.B. oder einfach „Sitzung machen“, also an Plätzen oder in der Fußgängerzone sitzen und durch freundliche Gesten oder Unterhaltungen ein paar Münzen erhalten, aber keineswegs aktiv Passanten anbetteln.
Manche sind Weltenbummler und bereisen verschiedene Länder, gerne in Südeuropa, da es sich in der Wärme besser draußen schlafen lässt. Sie verdingen sich als Erntehelfer, Saisonarbeiter oder Straßenkünstler. Wenn genug Geld zusammen ist, reisen sie mit dem Zug oder per Anhalter weiter. Manchmal müssen sie sich eine Auszeit nehmen von der Platte und kommen in einer primitiven Bleibe unter, um neue Kraft zu tanken. Draußen leben und schlafen zehrt an Körper und Seele. Umso mehr, wenn Sucht oder weitere Krankheiten vorhanden sind.
Andere sind innerhalb Deutschlands unterwegs und nicht selten auf bekannten Routen. Da in Deutschland Meldepflicht besteht und wir so ein bürokratisches Land sind, bleiben einige Wohnungslose nicht gerne allzu lange an einem Ort. Denn dann kommen allerlei Auflagen und Behördengänge auf sie zu. Denken Sie nur einmal daran, was Sie alles erledigen mussten, nachdem sie neu umgezogen waren!
Und schließlich gibt es noch das lokale Berbertum. Menschen, die ihre Stadt nicht verlassen, vielleicht sogar einmal ganz bürgerlich da wohnten, aber nach dem Verlust ihres Wohnraumes lieber Platte machen, statt in die kommunalen Unterkünfte zu ziehen. Sie kennen die geschützten Fleckchen, wo man mit etwas Glück weder vertrieben noch überfallen wird. Aber hier wird das Eis schon dünn. „Richtige Berber“ würden wohl protestieren und sagen, dass wahre Berber eben nicht lokal gebunden sind.
Wenn man sich so ein Straßenleben vorstellt, kann man verstehen, warum sich die Frauen, wenn sie wirklich draußen leben, lieber einem Mann anschließen, statt allein zu bestehen. Die Gefahr, schutzlos Gewalt ausgesetzt zu werden, ist groß. Auch Männer werden immer wieder überfallen und misshandelt. Aber selten dabei vergewaltigt.
Berber sind also Menschen mit hoher Autonomie und gutem Selbstmanagement. Ich mochte sie unter all den anderen Gruppen in der Wohnungslosenszene am liebsten. Ihre Biografien und Persönlichkeiten faszinierten mich. Aber sie waren auch „anstrengende Klientel“. Denn der Widerspruch zwischen Autonomie und der Begegnung mit Sozialarbeit, die ja ein Hilfesystem repräsentierte, stand gereizt im Raum.
Es war in den 1990ern einer der Leitfiguren der Berberszene, die in Offenburg das Haus mit besetzte. Ein stolzer und starrköpfiger Mann. Optisch so ganz und gar nicht obdachlos. Kein wehendes Haar, rasiertes Gesicht, gepflegte Zähne und, das darf man auch ruhig schreiben, eine attraktive Erscheinung.
Er wusste was er wollte und konnte sich wortgewandt ausdrücken. Und was er keinesfalls wollte, wusste er ebenso gut: Sozialarbeiter, die versuchten, ihm seine Defizite zu erklären. Sachbearbeiterinnen in Behörden, die ihn von oben herab behandelten und Machtspielchen spielten. Als hilfsbedürftiger, armer Obdachloser betrachtet zu werden.
Wenn ich seine Persönlichkeit ein wenig beschreibe, kommen wir der Kultur der Berber schon ein ganzes Stück näher. Neben ihrer Lebenseinstellung haben sie auch Regeln und Ehrenkodexe. Zum Beispiel, dass man auf Platte zusammenhält. Das heißt, ich beklaue niemanden, der mit mir Platte macht, auch und gerade dann nicht, wenn er mal wegmuss und ich auf sein Hab und Gut aufpasse.
Wenn jemand neu in die Gegend gekommen ist und sich nicht auskennt, sagen ihm die anderen wo was zu finden ist. Aufdringliches Verhalten der „bürgerlichen Bevölkerung“ gegenüber ist verpönt. Das heißt, kein aggressives Betteln und Herumpöbeln in betrunkenem Zustand etwa. Auch das Sauberhalten der Platte ist wichtig, speziell was Unrat und Hinterlassenschaften betrifft.
Heißt das, dass nie einer den anderen bestiehlt? Dass sie immer aufeinander achten? Natürlich nicht. Man sollte das Berberleben auf der Straße nicht romantisieren. Wie alle Menschen quer durch alle Milieus, wird auch hier gegen Regeln verstoßen.
Auffallend viele sind Alkoholiker. Das versuchen die Betroffenen selbst auch nicht zu verleugnen und man kann ganz offen darüber sprechen. Die meisten haben zusätzlich zur Sucht noch mit anderen Krankheiten zu kämpfen und die können mit den Jahren das Straßenleben zunehmend härter bis unmöglich machen. Oft sind es die Summe der Krankheiten im fortgeschrittenen Stadium, die zu einer Verwahrlosung führen. Sich dann in ein Hilfesystem zu begeben, fällt ihnen schwer, sogar wenn es niederschwellige Angebote macht. „Sich einem Hilfesystem ergeben“, bringt Thomas Rutschmann dieses Gefühl des Ausgeliefertseins auf den Punkt.
Betroffene als Experten
Alle Straßenleute sind Experten im Organisieren. Jeden Tag müssen sie sich um ein Nachtquartier bemühen und die, die draußen schlafen, müssen damit rechnen, kurzfristig vertrieben zu werden, sodass es nötig sein kann, schnell umzudisponieren. Ein gewisses Unternehmertum legen sie auch an Tag, denn das Geld für heute, für die Woche muss ebenfalls organisiert werden.
Man kann nicht betrunken durch den Alltag stolpern und gleichzeitig all das bewerkstelligen. Sogar die Sucht will gemanagt werden. Meist beginnt der Alkohol erst ab dem späten Nachmittag in größeren Mengen zu fließen, wenn das Wichtigste erledigt ist.
Der Hausbesetzer in diesem Beitrag kannte seine Begrenzungen sehr wohl. Auch er konnte nicht mehr völlig autonom seinen Lebensstil pflegen. Er litt unter schweren Viruserkrankungen, die durch kontaminiertes Zubehör beim Drogenkonsum häufig auftreten.
Als er die Erfahrung machte, dass Sozialarbeit ihm auf Augenhöhe begegnet, öffneten sich ganz neue Räume der Möglichkeiten. Das Projekt Hausbesetzung wurde ein gemeinsames, wo sich Wohnungslosenhilfe zusammensetzte aus fachlicher Berufsprofession und dem Expertentum der Straße. Mit vereinten Ressourcen ging es nicht mehr nur um individuelle Unterstützung, sondern um die Lebenslagen aller Wohnungslosen, um die möglichen Ursachen von Armut in einem reichen Land und darum wie die Kommune mit Leerständen, Wohnraumverteilung, Ghettoisierung und Kapitalismus umging. Heute würde man sagen: Gentrifizierung des öffentliche (Wohn)Raumes.
Was in der Offenburger Wohnungslosenhilfe so einzigartig war, war die Tatsache, dass Wohnungslose nun als Aktivisten im politischen und öffentlichen Raum auftraten. Sie vernetzten sich auf lokaler Ebene, aber auch landes- und bundesweit. Die Kultur der Straße ins Haus holen, war das Experiment, sich von Seiten der Profession auf die Lebensrealität der Betroffenen radikal einzulassen, ihren Lebensstil in geschlossenen Räumen zuzulassen und ihre Expertise, sowie ihre Autonomie zu respektieren. Sie formulierten, wie Unterstützung aussehen sollte, um ihrer Lebenswelt gerecht zu werden und die Sozialarbeit formulierte, was davon realistisch umsetzbar war und wie.
Dieser Prozess des Miteinanders gebar konkrete Ergebnisse. So entstand eine Pflasterstube, wo Menschen von der Straße oder in Armut unbürokratisch medizinisch versorgt werden können, ohne Praxisgebühr oder Krankenversicherung. Und als Harz 4 eingeführt wurde, konnte erreicht werden, dass Wohnungslose, die alle paar Tage in einer anderen Kommune auftauchen, nicht jedes Mal die 30 Seiten Antrag von neuem ausfüllen mussten, sondern nur noch ein paar Seiten.
Wie, du arbeitest mit Pennern? Und wozu hast du dann bitte studiert?
Niederschwellig arbeiten heißt nicht, auf einem Schmuddelniveau vor sich hinzuwurschteln. Der Anspruch an sie Sozialarbeit ist hoch. Voraussetzung sind ein hohes persönliches Engagement und, da sind etliche Menschen erstaunt, hohe fachliche Qualifikation. So wie Norbert Blüm einst behauptete, dass jeder und jede in der Krankenpflege einfach nur ein gutes Herz und fleißige Hände bräuchte, so glauben auch heute noch viele, dass in der niederschwelligen sozialen Arbeit die positive Einstellung dazu ausreicht.
Die wenig schmeichelhafte Überschrift ist die Frage, die ich ständig aus meinem privaten Umfeld zu hören bekam. Ja, eine gute fachliche Ausbildung ist nötig. Je niederschwelliger, desto mehr.
Mit wohnungslosen Menschen darüber hinaus noch gemeinsam Lobbyarbeit zu gestalten und sie darin zu bestärken, für ihre Interessen öffentlich aufzutreten, verlangt umso mehr fachliche Finesse. Die meisten Laien glauben kaum, dass so etwas überhaupt möglich ist.
In allen Menschen stecken ungeahnte Kompetenzen und Stärken. Auch in denen, die Symptome so ungefiltert öffentlich zeigen. Alle Milieus und Gruppen in unserer Gesellschaft pflegen ihre Kultur. Wir müssen uns nicht mit allem selbst identifizieren. Aber das gegenseitige Respektieren und Anerkennen könnte bereichernd sein.
Der ehemalige Hausbesetzer lebt schon seit einigen Jahren nicht mehr. Wie viele Wohnungslose, wurde er nicht sehr alt. Armut macht krank und die Lebenserwartung armer Menschen liegt unter dem Bundesdurchschnitt (s. Statistik des Robert Koch-Instituts, Quelle im Anhang). Arme Menschen auf der Straße sind schon mit Anfang sechzig uralt und werden kaum siebzig.
Unser Protagonist blieb in Offenburg und ließ sich irgendwann in einer eigenen Wohnung nieder. Dank medizinischer Versorgung genas er weitgehend und lebte drogenfrei. „Das Heroin konnte ich ohne Therapie aus meinem Leben verbannen, den Alkohol habe ich auch allein überwunden. Nur die verdammten Zigaretten! Das schaffe ich einfach nicht“, erzählte er mir. Er engagierte sich viele Jahre für wohnungslose Menschen und Armutsbetroffene. Er war über den Ortenaukreis hinaus bekannt und regelmäßig in der Presse.
Seinen Lebensstil gab er nie ganz auf. Bis zum Schluss machte er an bestimmten Tagen „Sitzung“ und unterhielt die Kundschaft eines großen Supermarktes, die dort einkaufte. Er war sehr beliebt und hatte die offizielle Erlaubnis des Ladeninhabers, vor dem Eingang sitzen zu dürfen. Als er verstarb erschien ein großer Artikel über ihn in der Lokalzeitung und etliche Menschen kamen darin zu Wort, die seiner gedachten.
Was nach dem Lesen dieses Beitrags geschehen könnte
(Meine Wunderfrage, wenn ich einen Wunsch frei hätte)
Ich hätte eine Abhandlung verfassen können, im Stile von „Wohnungslosenhilfe § 67 SGB XII (Sozialgesetzbuch, zwölftes Buch) und Überschriften wie „Wohnungslosigkeit im Nationalsozialismus - Geschichte von struktureller Gewalt“.
Es hätte meinem Ego gefallen. Zu zeigen, dass ich das kann. Seriös und wissenschaftsorientiert zu klingen. Ich hätte es sicherlich auch geschafft, innerhalb eines Tages doch noch Statistiken der ehemaligen DDR zusammenzutragen. Es ist das erste Mal, dass ich in dieser Fachzeitschrift schreibe. Ich möchte natürlich einen guten Eindruck hinterlassen.
Und die erste Version dieses Artikels klang auch so. Statistiken und viele Zitate waren darin enthalten. Vor allem las er sich: langweilig
Also schrieb ich ihn noch einmal neu und bettete trockene Information in meine persönliche Erfahrung mit Wohnungslosen ein. Denn ich möchte, dass dieser Artikel gelesen wird. Ja klar, auch das schmeichelt meinem Ego. Aber mein Herzenswunsch ist es, dass er Sie berührt. Dass er nachklingt.
Ich möchte mit diesem Beitrag Ihr System ein wenig anstupsen. Erlauben Sie sich einen veränderten Blick, wenn Sie Wohnungslosen begegnen. Vielleicht sehen Sie einer Frau oder einem Mann, der da am Rande des Wochenmarkts sitzt, drei Sekunden länger in die Augen als sonst und nicken ihm oder ihr kurz zu bevor sie weiter eilen. Einfach, um diesem Menschen zu zeigen „ich nehme dich wahr, ich sehe dich“.
Eventuell lassen Sie sich sogar in ein kurzes Gespräch verwickeln, wenn dieser Mensch Sie anspricht. Sie werden erstaunt sein, was für spannende Erlebnisse sie zu hören bekommen. (Abraten würde ich allerdings von Gesprächen mit Menschen, die von organisierten Banden zum Betteln losgeschickt werden. Sie knien oft und strecken einem ihren Becher mit Leidensmiene entgegen oder sind aufdringlich.)
Wenn ich jemandem etwas Kleingeld überlassen möchte, sind Fragen wie „Haben Sie sich einen guten Platz ausgewählt? Ist heute viel los? Wie sind die Leute heute drauf? Wie alt ist denn Ihr Hund, der ist ja brav“, geeignet für unverkrampften Austausch von Freundlichkeiten.
Schämen Sie sich nicht ob ihrer lang gepflegten Vorurteile. Erinnern Sie sich an die junge Sozialarbeitsstudentin, die von wohnungslosen Menschen lernen durfte, dass sie weder arbeitsscheu sind noch ausschließlich nur saufen und einen auch nicht ausrauben, wenn man sie anspricht. Vergessen Sie ruhig meinen Namen (der ist eh kompliziert), aber erhalten Sie sich ein Plätzchen für das Wissen, dass es neben dem Elend, der Armut, der Krankheit und der Sucht auch eine lebendige Kultur der Straße gibt. Dass diese Menschen ungeahnte Ressourcen besitzen und sie freisetzen können, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen. Unsere Gesellschaft könnte davon sehr profitieren.
Literatur
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) Statistiken 2019: https://www.bagw.de/fileadmin/bagw/ media/Doc/DOK/BAGW_Statistikbericht_2019.pdf [aufgeru- fen am 31.1.22]
Hamburger Straßenzeitung „Hinz & Kunzt“, Ausgabe April: 2010 https://www.hinzundkunzt.de/tippelbruder-in-der- nazizeit/
Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e.V. (2011). Impulse zur Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe in Baden-Württemberg, Hilfen in sozialer Ausgrenzung und Wohnungsnot - Zukunft vernetzter Hilfen. Diskussions- papier 22.12.2011
Petz, D. (2008). Lebenslanges Lernen obdachloser Men- schen. Ermittlung von pädagogischem Handlungsbedarf zur Prävention, Optimierung und Überwindung der Lebensform Nichtsesshaftigkeit. Auszüge einer Masterarbeit. https:// www.grin.com/document/121241 [aufgerufen am 31.1.22]
Robert Koch Institut (2019). Soziale Unterschiede in Deutschland: Mortalität und Lebenserwartung. Journal of Health Monitoring 1. https://www.rki.de/DE/Content/Ge- sundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBE- DownloadsJ/JoHM_01_2019_Soz_Unterschiede_Mortalitaet. pdf? [aufgerufen am 31.1.22]
Der Artikel in seiner Originalfassung
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