Im Gespräch mit Benjamin Lambeck, aufgezeichnet auf Zoom.
Dauer: 38 Minuten
Bitte gerne noch mehr, auch nach der Pandemie!
Dieser Beitrag erschien in in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, Ausgabe 3/2023, verlag modernes lernen. Er ist hier um etwas Text ergänzt und im Layout verändert.
Seit über zehn Jahren führe ich Beratungen überwiegend online durch. Am Computerbildschirm mit Video und Ton. Ich habe verschiedene Plattformen genutzt und die Entwicklungen ihrer Funktionalität miterlebt und durchlitten.
Datenschutzrechtlich war das haarsträubend und nicht erst seit Einführung der Datenschutz-Grundverordnung im Jahr 2018 so nicht erlaubt, aber ich wurde professioneller. Irgendwann ließ ich Skype und Google Hangout hinter mir und nutzte verschlüsselte Videoplattformen für Medizinerinnen wie „Arztkonsultation.de“.
In diesem Beitrag möchte ich meine Erfahrungen aus der Praxis mit Ihnen teilen, und auch einige meiner Klientinnen schildern ihre Perspektive. Wie ist das, am Bildschirm Menschen zu begegnen und systemisch mit ihnen zu arbeiten? Manchen bin ich noch nie in der dreidimensionalen Welt begegnet. Andere sehe ich in unterschiedlichen Abständen auch offline. Für einige wenige Klientinnen und Klienten steht außer Frage, sich mit mir in einen Beratungskontext am Bildschirm zu begeben, sie kommen ausschließlich in meine Praxis vor Ort.

„Ist es nicht krass, dass ich fühle was ich fühle, obwohl wir beide nur am Computer sitzen?“
Herr E. ist Mitte fünfzig und wohnt 1.637 Kilometer von mir entfernt.
Google Maps zeigt an: 20 Stunden 14 Minuten Fahrt mit dem Auto oder sieben Stunden Flug in das skandinavische Land.
Die Anfänge
Als ich 2008 mit meinen ersten Beratungen online begann, war ich noch nicht zertifizierte systemische Beraterin. Ich gab regelmäßig Workshops in Skandinavien oder Großbritannien, und so kam es, dass sich zunächst ausschließlich Menschen mit Beratungsbedarf aus diesen Ländern an mich wandten. Für „Blended Counceling“ hatte ich damals noch keinen Begriff. Es war schlicht die einzige Möglichkeit für meine Klientinnen, Beratung mit mir zu gestalten. Anfangs beriet ich abends im Hotel nach den Workshops, dann blieb ich noch den Montag. Aber diese selbstausbeuterische Praxis kam schnell an seine Grenzen. Die Idee, Beratung online anzubieten, war aus der Notwendigkeit geboren, vor Ort kein ausreichendes Angebot machen zu können.
Systemische Beratung als Schwerpunkt im Studium
Während meines Studiums konnte ich zwischen systemischer Familientherapie, Gestalt- und Verhaltenstherapie meinen Schwerpunkt wählen. Ich hatte keine Ahnung. Meine Zufallswahl sollte sich als Segen erweisen. Wir hatten einen motivierten Lehrtherapeuten aus der Heidelberger Schule, der für die systemische Familientherapie, wie es damals noch hieß, brannte und uns mit seiner Begeisterung ansteckte. Wir erstellten unzählige Genogramme und lernten verschiedene Methoden, vor allem aber übten wir Aufstellungen, in denen wir die theoretisch erlernten Fragetechniken zur Anwendung bringen konnten. Damals war mir noch nicht klar wie wertvoll es war, dass wir so viel Zeit zum praktischen Üben hatten. Auch war ich mir des Glückes nicht bewusst, dass unser Lehrtherapeut mit dem Ansatz Bert Hellingers nichts am Hut hatte. Denn der hatte zu jener Zeit noch Hochkonjunktur. So erschloss sich uns ein unverkrampfter Umgang mit Strukturaufstellungen und wir durften verschiedene Ansätze völlig undogmatisch lernen.
Die Hochschule bewilligte uns ein zusätzliches Budget, damit wir auch über unsere Sollstunden hinaus in unserer freien Zeit weiter lernen konnten. Am Ende hätten wir für einen zertifizierten Abschluss an einem Ausbildungsinstitut nur noch einen Teil absolvieren müssen.
Systemischer Ansatz in der Wohnungslosenhilfe
Als junge Berufsanfängerin in der Wohnungslosenhilfe bemühte ich mich in der Begegnung mit Bewohnern der Einrichtung und auch bei der aufsuchenden Arbeit auf der Straße, den systemischen Ansatz zu integrieren. Besonders wertvoll dabei war, die Grenzen zu erfahren. Bei Wohngruppentreffen am späten Nachmittag, wenn der durchschnittliche Alkoholpegel bei etwa 1,5 Promille liegt, kann es als Intervention durchaus angebracht sein, einmal auf den Tisch zu hauen und dominant alle lauten Männerstimmen zu übertönen, damit die Diskussion konstruktiv wiederaufgenommen werden kann.
Als ich dann den Schritt in die freiberufliche Tätigkeit wagte, war es für mich nur natürlich, dass ich fortan systemisch beriet, auch wenn ich es nicht so nannte. Erst vor ein paar Jahren erfüllte ich mir den langjährigen Wunsch den zertifizierten Abschluss zu absolvieren. Und da war ich doch sehr erstaunt, welche Reaktionen meine Beratungsarbeit online auslöste.
Nur begrenzt möglich bis unseriös
So in etwa fiel das Urteil aus, sobald ich mich in meiner neuen Ausbildungsgruppe vorgestellt hatte. Interessanterweise zeigten meine Mitlernenden dabei zumeist neugierige Offenheit. Die größte Skepsis hätte ich von ihrer Seite erwartet, aber sie wollten alles Mögliche von mir wissen und gaben zu, wenn ihnen die Vorstellungskraft für eine Praxis fehlte, die überwiegend online operiert.
Auf Seiten der Lehrenden, wo ich schon von Berufs wegen eine eher vorurteilsfreie Haltung erwartet hätte, zeigten sich anhand der Bemerkungen und Kommentare die Grenzen im Geiste schon deutlicher.
Und so nahm ich verwundert wahr, wie gegen Ende der Ausbildungszeit, als der erste staatlich angeordnete Lockdown uns alle an die Bildschirme zitierte, die Möglichkeiten, die das Arbeiten online auch bieten kann, nicht etwa als Ressource oder Lösung erlebt wurden, sondern als Zumutung.
Auch in anderen Fortbildungen hörte ich immer wieder „hoffentlich ist das schnell wieder vorbei“. Lehrende, sowie praktizierende Therapeutinnen und Berater konnten es kaum erwarten zurückzukehren zu dem, was ihnen vertraut war.
Niemand konnte 2020 wissen, dass direkte Kontakte noch lange nicht möglich sein würden. Mit fortschreitender Zeit allerdings gab es immer noch eine erstaunlich hohe Zahl an Menschen, die das Beraten online weiterhin ablehnten und negativ beurteilten.
Neue Möglichkeiten mit Online-Beratung
Nun bin ich persönlich begeistert von der Online-Beratung. Ich arbeite sehr gerne auf diese Weise. Ich kann viele positive Aspekte daraus ziehen und es macht mir Spaß verschiedene Medien miteinzubeziehen. Es haben sich mir dadurch neue Wege erschlossen, Methoden anders anzuwenden.
So sitzen bei mir in der Paarberatung manchmal die Partner örtlich voneinander getrennt an verschiedenen Bildschirmen, was schon einmal eine andere Dynamik in das Gespräch bringt im Vergleich zum gewohnten Nebeneinandersitzen.
Auch lasse ich mal einen Partner „verschwinden“, indem ich ihn bitte, die Kamera auszuschalten und nur zuzuhören. Nach einigen Minuten hat man schon beinahe vergessen, dass da noch ein stummer Zuhörer mit dabei ist, was dem Gespräch einen interessanten Impuls geben kann. In einem Zimmer ist die Präsenz des „stummen unsichtbaren Partners“ deutlicher wahrzunehmen.
Online-Beratung passt nicht für alle
Aber natürlich weiß ich, dass es Menschen gibt, für die der Weg in die Praxis ein wichtiger Teil des gesamten Beratungsprozesses ausmacht. Die eigene Umgebung verlassen und aus dem gewohnten Alltag herauszutreten, wird genauso wohltuend empfunden wie die Inhalte der Treffen.

Herr G. ist Anfang sechzig und kommt lieber in meine Praxis vor Ort:
„Ich würde kein Coaching am Computer wollen. Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich sitze beruflich schon viel zu viel am Bildschirm. Außerdem ist das Herkommen eine Auszeit für mich, ich komme mal weg und es stört mich niemand."
Einige meiner Klientinnen haben mir gesagt, dass die Tatsache, in einem Raum zu sitzen, der schon optisch auf professionelle Beratung ausgerichtet ist, etwas in ihnen auslöse. Flipchart, die Anordnung der Sessel, Bilder an den Wänden mit Botschaften für die Seele, all das scheint für einige Menschen eine Atmosphäre zu erzeugen, die ihnen dienlich ist.
Ähnliche Effekte kennen wir aus der Medizin, wo Äußerlichkeiten, die die Adressatin irgendwie erwartet, sogar eine positive Auswirkung haben können auf die Genesung. Weiße Kittel etwa oder medizinische Apparate (s. Studie des Universitätsspitals Zürich zum weißen Ärztekittel, Link im Anhang).
Bei aller Begeisterung für die Online-Beratung arbeite ich auch weiterhin gerne mit Menschen in den gleichen vier Wänden. Vor allem Gruppen habe ich immer noch mit Vorliebe physisch bei und vor mir. Ich mache beides. Und ich würde nie so weit gehen zu behaupten, das eine sei dem anderen überlegen.
Manchmal kann online größere Vorteile bieten als „vor Ort“. Und umgekehrt genauso. Sie merken schon, dass ich manche Begriffe, die sich eingebürgert haben, vermeide. Ich sage zum Beispiel nicht „in Präsenz“, wenn ich vor Ort in einem Zimmer meine. Denn präsent sind wir auch online. Für mich eröffnen sich auch online „Räume“ auf vieldimensionale Weise, weswegen ich lieber „in einem Zimmer“ sage, auch wenn Raum das elegantere Wort für Zimmer wäre.

Frau I. ist Ende dreißig und kennt mich nur am Bildschirm. Wir haben in regelmäßigen größeren Abständen Sitzungen und eine Stunde Zeitverschiebung. „Ich bin so froh, dass Sie Sitzungen online anbieten. Klar könnte ich zu jemandem hier vor Ort gehen. Aber mir ist ehrlich gesagt egal, ob Sie systemische Beratung oder sonstwas machen. Es ist die Person, die ich gewählt habe. Ich glaube nicht, dass der Effekt größer wäre, wenn wir im gleichen Raum sitzen.“ Frau I. wohnt in Sheffield/England. Zwischen uns liegen 1007 Kilometer.
Online-Beratung als gleichwertiges Angebot
Was mich bei den Diskussionen um Pro und Contra der Online-Beratung häufig erstaunt ist die Unerbittlichkeit mit der Position bezogen wird. Und wie Online-Beratung abgeurteilt wird von jenen, die sie ablehnen. „Interessant, das kann ich mir aber für mich nicht vorstellen, weil … oder das möchte ich selbst nicht so praktizieren, weil …“ klingt anders als „Das ist ja unseriös, das geht doch nicht …“
Ich möchte Sie mit diesem Artikel gerne dazu einladen, die Möglichkeiten für sich zu entdecken, die ein Sowohl-als-auch birgt. Wenn Sie während der Phasen des Lockdowns vorübergehend Beratungen, Supervisionen oder andere systemische Arbeit online angeboten haben, werden Sie vielleicht meine Erfahrung teilen, dass man damit einige Menschen leichter erreicht. Andere wiederum nehmen dazu Abstand.
Ich wage die These, dass man mit beiden Beratungskonzepten den Menschen besser dienen kann, als wenn man eines ausgrenzt. Nicht alle Beraterinnen und Therapeuten müssen beides in ihrem Repertoire haben. Aber wenn wir die Online-Beratung als eine Möglichkeit der gleichwertigen und mangelfreien Art der systemischen Beratung anerkennen können, erweitern wir den Kreis unserer Zielgruppe.
Chancen der Online-Beratung
Ressourceneinsparung
Zeitersparnis auf beiden Seiten wird immer als einer der ersten Vorteile einer virtuellen Begegnung genannt. Die Klientin hat keine Anfahrt und der Berater muss keine Praxis vorbereiten wie heizen, lüften, säubern und anderes, auch sein Weg entfällt. Damit spart man auf beiden Seiten Geld. Eine reine Online-Praxis hat auch keine weiteren finanziellen Ausgaben wie Miete. Zusammengefasst kann man also feststellen, dass verschiedene Ressourcen eingespart werden.
Niederschwelligkeit
Es gibt Menschen, für die ein Online-Angebot leichter anzunehmen ist als in Praxisräumen zu erscheinen. Von zuhause aus am eigenen Computer oder an mobilen Geräten wie Tablet oder Handy kann die Hürde erst mal geringer sein, sich in Beratung zu begeben.
Je nach Bedarf kann z.B. die Kamera erst mal ausbleiben, und es gibt auch Beratungen online, die nur schriftlich erfolgen wie Chatnachrichten. Das sei allerdings nur kurz erwähnt, ich selbst arbeite so nicht.
Manche Gesprächspartner jedoch nutzen die niedrigere Hürde auch zum Aussteigen aus dem Kontakt. So berichtete mir eine systemische Therapeutin, dass sie schon erlebte, wie Coachees kommentarlos vom Bildschirm verschwanden, wenn sie aufgebracht waren. Sie legten einfach auf.
Barrierefreiheit
Es gibt Menschen, für die ein Online-Angebot leichter anzunehmen ist als in Praxisräumen zu erscheinen. Von zuhause aus am eigenen Computer oder an mobilen Geräten wie Tablet oder Handy kann die Hürde erst mal geringer sein, sich in Beratung zu begeben.
Je nach Bedarf kann z.B. die Kamera erst mal ausbleiben, und es gibt auch Beratungen online, die nur schriftlich erfolgen wie Chatnachrichten. Das sei allerdings nur kurz erwähnt, ich selbst arbeite so nicht.
Manche Gesprächspartner jedoch nutzen die niedrigere Hürde auch zum Aussteigen aus dem Kontakt. So berichtete mir eine systemische Therapeutin, dass sie schon erlebte, wie Coachees kommentarlos vom Bildschirm verschwanden, wenn sie aufgebracht waren. Sie legten einfach auf.
Grenzen der Online-Beratung
Wie schon weiter oben erwähnt, zeigen einige wenige Menschen in der Online-Begegnung ein Verhalten, das sie eventuell in der Begegnung im gleichen Zimmer nicht so ohne weiteres entfalten würden.
Eine erfahrene Lehrtherapeutin berichtete mir von ihrem subjektiven Eindruck, dass manche Menschen Begegnungen online als weniger verbindlich ansehen würden. Der Umgang miteinander unterläge anderen Regeln. Sich aus einem Kontakt zu verabschieden fiele auf diesem Wege leichter als ein Zimmer zu verlassen, in dem man physisch miteinander säße.
Regeln und Vereinbarungen
Vor allem das Lernen und Lehren online unterliegt einer anderen Dynamik und es braucht verbindliche, sowie strengere Regeln, damit sich alle Beteiligten wohlfühlen.
Und die wende ich auch für die Online-Beratung an. Aus meiner Wahrnehmung heraus braucht es ein paar Vereinbarungen mehr als Rahmen für die Beratung online als ich das für ein Setting im Praxisraum tue. Man kann nicht einfach online tun, was sonst in der Begegnung vor Ort funktioniert.
Das gilt vor allem für systemische Beratung mit mehreren Beteiligten. Es ist ein größerer Aufwand nötig, einen Raum zu schaffen, wo sich alle Mitglieder gut aufgehoben fühlen können. Wenn in einer Paarberatung eine Partie beleidigt einfach auflegt, hinterlässt das keine konstruktive Stimmung. Manche Menschen scheint der Kontakt über den Bildschirm dazu zu verleiten, die Verbindung als unverbindlicher zu werten im Vergleich zur physischen Begegnung. Online bin ich mit einem Klick einfach weg.
Aus dem Grunde macht die Lehrtherapeutin keine Angebote, wo vermittelnden Elemente im Mittelpunkt stehen, wie Mediationen zum Beispiel.

Herr und Frau O. sind beide in ihren Fünfzigern und leben 17 Stunden 13 Minuten Autofahrt von mir entfernt.
Viermal im Jahr treffen wir uns zur Paarberatung online.
„Es hat auf jeden Fall geholfen, dass wir uns zuerst im wirklichen Leben kennengelernt haben. Ob wir ad hoc eine Paarberatung online gestartet hätten? Wir sind uns da nicht sicher.“
Für diesen Beitrag interviewte ich Benjamin Lambeck, der eine Plattform mitgegründet hat, um systemisches Arbeiten online zu einer lebendigen Erfahrung werden zu lassen. (Die Aufzeichnung des Zoom-Anrufes finden Sie am Anfang und Ende dieses Beitrages als Video.)
Als wir einander nach den Grenzen der Online-Beratung fragen, antworten wir beide übereinstimmend, dass uns dazu nichts einfiele.
Ich würde nachtragen, dass ich streitende Paare aus eben genannten Gründen eventuell nicht online beriete, es sei denn, ich hätte den Eindruck, dass beide unsere Umgangsregeln trotz hitziger Emotionen zuverlässig beherzigen.
Ich reiße Vor- und Nachteile hier nur an. Tiefergehende Fakten und eine gründliche Analyse bleibe ich Ihnen in diesem Artikel ebenfalls schuldig. Dazu gab es in dieser Zeitschrift schon sehr gut recherchierte und ausgezeichnete Beiträge, die Sie im Anhang finden. Mein Fokus liegt darauf, von meinen Erfahrungen mit Online-Beratung zu berichten.
Der virtuelle Praxisraum mit coachingspace
Die Jahre der Pandemie hat einiges an Kreativität hervorgebracht und viele Leute mit Begegnungen online vertraut werden lassen.
Das Arbeiten mit dem Systembrett etwa war online zwar möglich, ich nutzte das aber nur selten, da die Vorbereitungen komplex waren und ich selbst nicht zufrieden war mit dem Arrangement. So ließ ich eine Kamera von der Decke baumeln, die über dem Systembrett schwebte, wo ich die Figuren auf Anweisung bewegte.
Benjamin Lambeck ist so ein Mensch, dessen Kreativität nur so sprudelte als der Lockdown seine gerade frisch gegründete GmbH in den Hausarrest schickte. Er, Lukas Mundelsee und Sören Straßmann entwickelten daraufhin die digitale Plattform coachingspace, wo sich professionelle Beraterinnen und Klienten in einem virtuellen Praxisraum treffen können. Auf dem Bildschirm erscheint ein Zimmer, das so eingerichtet ist, wie man sich eine gemütliche Praxis vorstellt. Da steht eine Couch, an der Wand hängt ein Whiteboard und die Möbel sind aus Holz. Bilder hängen an den Wänden und Zimmerpflanzen sorgen für grüne Tupfer.
Mit der Computermaus bewegt man sich dreidimensional im Raum und kann alle möglichen Perspektiven einnehmen; die Frosch- genauso wie die Vogelperspektive und man hat tatsächlich das Gefühl, zusammen am Systembrett Platz zu nehmen. Klientin wie Berater können um das Brett herumgehen, seitlich oder von oben darauf schauen und sogar in die Aufstellung hineinzoomen, um selbst zwischen den Figuren zu stehen.




Bildschirmaufnahmen Systembrett im "coachingspace"
Über Mikrofon und Kamera sind alle Teilnehmenden im direkten Kontakt, wenn sie das wollen. Das Whiteboard kann ebenfalls genutzt werden und es gibt noch weitere Möglichkeiten des Gestaltens wie z. B. das Arbeiten mit dem Inneren Team.
Oft geäußerte ablehnende Aussagen über Online-Beratung
Ich gebe an dieser Stelle typische Aussagen wieder, die Skeptikerinnen und Skeptiker mir gegenüber häufig geäußert haben und immer noch äußern. Dazu gebe ich jeweils eine kurze Antwort.
Online-Beratung ist unseriös!
Welche Fakten haben Sie zu dieser Beurteilung geführt? Was genau verstehen Sie unter seriöser und unseriöser systemischer Beratung?
Für diese Behauptung bräuchte ich mehr Informationen Ihrerseits. Ich kann Ihnen Quellen nennen, die darlegen, dass Online-Beratung gleichwertig ist mit Beratung im Kontakt vor Ort.
Für seriöse Online-Beratung müssen einige Kriterien erfüllt sein, wie die Erfüllung der DSGVO und das Einhalten bestimmter Regeln. Darin unterscheidet sie sich jedoch nicht von der Beratung vor Ort, denn auch da gibt es ein Regelwerk, der den Rahmen gestaltet. Datenschutz sowie Schweigepflicht müssen auch hier eingehalten werden.
In einer Online-Beratung kann man nur begrenzt systemisch-methodisch arbeiten, manches geht schlicht nicht, wie z.B. TimeLines oder Aufstellungen.
Ich habe bisher alle Methoden online angewandt und noch nie erlebt, dass es nicht ging. Man muss ein bisschen anders an die Sache herangehen als in einem Praxiszimmer und manches benötigt mehr Vorbereitung, aber es es funktioniert.
Im Gegenteil, online habe ich sogar ein paar Möglichkeiten mehr entdeckt. Das Ausblenden eines Teilnehmenden, wenn er oder sie die Kamera ausschaltet, hat sehr interessante Auswirkungen auf alle, die noch sichtbar bleiben, weil man den Ausgeblendeten irgendwann vergisst.
Dieser Effekt ist sehr viel größer als jemand, der sich in die hintere Ecke eines Zimmers setzt und zuhört. Für Familien- und Paarberatungen ist das fantastisch, ebenso interessant aber auch in einem Reflecting Team.
Online-Beratung ist nicht so effektiv wie Beratung in Präsenz.
Die emotionale Verbindung ist schwächer, wenn man sich nur online zur Beratung trifft.
Online werden andere Sinne stärker aktiviert als offline. Die Intensität der Emotionen während einer Sitzung erlebe ich bei beiden Versionen, online und in einem Zimmer, ähnlich. Sowohl bei den zu Beratenden als auch bei mir als Beraterin.
Selbst wenn ich nicht den ganzen Körper in seinem Ausdruck erfassen kann, wenn ich am Bildschirm nur Gesicht und Schultern sehe, bekomme ich dennoch nonverbalen Signale gut mit.
Ein kleiner Exkurs bezüglich Gruppen: Gruppenmitglieder, die sich ausschließlich online begegnen, haben in der Tat die Tendenz, sich nicht miteinander in der Art und Weise zu verbinden, als wenn sie sich in einem Zimmer träfen. Sie verbringen an den Bildschirmen kaum je eine Pause miteinander und das inoffizielle Geplauder findet wenig bis gar nicht statt. Hier leidet die zwischenmenschliche Verbindung tatsächlich. Aber das betrifft meist eher Ausbildungsgruppen und Kursteilnehmende.
Online-Beratung ist einfach nicht das Gleiche wie Beratung in Präsenz.
Man muss sich daran gewöhnen, einige Absprachen dafür treffen, die man in einem Zimmer nicht bräuchte und als Beraterin ein paar digitale Kompetenzen erwerben, damit Online-Beratung flüssig vonstatten geht.
Aus diesem Grunde setzt sich Benjamin Lambeck bei den beiden Fachverbänden für Systemische Therapie, Beratung, Supervision, Mediation und Coaching DGSF und SG dafür ein, dass die Online-Beratung Teil der Curricula in den Ausbildungen wird. Er sieht sie als eine Methode im großen Koffer der Beratungsmethoden, die jede angehende Beraterin oder werdender Coach im Repertoire haben sollte.
Qualitätsstandards für Online-Beratung definieren und etablieren
Ich kann der Idee viel abgewinnen. So würden bei angehenden systemischen Beraterinnen und Therapeuten erst gar keine Vorurteile bezüglich der Online-Beratung aufgebaut und gleichzeitig eventuell noch vorhandene, aufseiten der Lehrenden, abgebaut. Die Entwicklung, die während der Coronapandemie an Tempo aufgenommen hat, lässt sich nicht mehr stoppen. Es wird immer mehr Beratungsangebot online geben, und da ist es doch für alle Beteiligten dienlich, dass man darauf achtet, gewisse Standards zu erfüllen. So verlöre auch die wenig fruchtbare Diskussion „Online-Beratung, ja oder nein? Seriös und machbar?“ an Hitze und könnte sachlich geführt werden.
Online-Beratung wird nicht mehr verschwinden. Wir werden nicht mehr zu vorpandemischen Zeiten zurückkehren, wo digitale Beratung ein Exotendasein führte (zumindest in Deutschland, in anderen Ländern war sie längst etabliert wie in den USA zum Beispiel). Es wäre vorausschauend und weise, wir alle gestalten die erwünschten Rahmenbedingungen mit, damit sie an Qualität gewinnt. Dafür braucht es dann übrigens nicht nur Enthusiasten wie mich oder Herrn Lambeck, sondern auch die Skeptischen. Wenn deren Einwände berücksichtigt und konstruktiv in den Prozess mit einbezogen werden, sind sie eine echte Ressource.
„Wenn sich die traditionellen Verbände SG und DGSF diesbezüglich nicht öffnen, dann machen es andere, wie CoachHub oder künstliche Intelligenzen. Wir können den ganzen Markt auch einfach an uns vorbei rauschen lassen, weil wir Skeptiker sind,“ so Lambeck „Man kann gerne bei den alten Stühlen bleiben, aber dann ist man halt überholt irgendwann. Ich fände das traurig, aber CoachHub ist auf dem Vormarsch und wenn da nichts passiert und man mit der Zeit geht, dann geht man mit der Zeit.“
Ich würde mir wünschen, dass die systemische Online-Beratung als gleichberechtigtes systemisches Arbeiten Anerkennung erfährt und die Skepsis ihr gegenüber nicht die Rolle der Bremse für Fortschritt einnimmt, sondern als Ressource zur fachlich-professionelle Weiterentwicklung dient.
Literatur
Marc Zollinger, Nathan Houchens et al. 2019:
Understanding patient preference for physician attire in ambulatory clinics: a cross-sectional observational study
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31072853/ (abgerufen am 30. März 2023)
Benjamin Lambeck & Sören Straßmann, Gründer und Inhaber von coachingspace:
https://coachingspace.net/ (abgerufen am 24. April 2023)
Übersicht und Liste für verschlüsselte Video-Sprechstunden:
https://www.kbv.de/media/sp/liste_zertifizierte-Videodienstanbieter.pdf (abgerufen am 7. April 2023)
Arztkonsultation.de:
https://arztkonsultation.de/ (abgerufen am 7. April 2023)
Martina Hörmann: Systemisch beraten in digitalen Welten - Perspektiven und Herausforderungen, Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 4/2020, Ausgabe Oktober 2020: verlag modernes lernen
Marina Barz: Beratung und Coaching digital: Paradoxie in der Realität - Vertrauen schaffen in der Distanz, Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 4/2020, Ausgabe Oktober 2020: verlag modernes lernen
Lukas Mundelsee: The New Normal? Blended-Konzepte in der systemischen Beratung an Beispielen mit dem „Coachingspace“, Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 4/2021, Ausgabe Oktober 2021: verlag modernes lernen
Martina Hörmann & Emily Engelhardt: Blended Counceling - Grundlagen, Aktuelles und Diskurslininien (2022), Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 2/2022, Ausgabe April 2022: verlag modernes lernen
Digitale Choachingplattform CoachHub:
https://www.coachhub.com/de/ (abgerufen am 1. Mai 2023)